Gefangene

 

Der Wind heulte.

Die Reiter zogen die Mäntel enger um sich. Seit mehr als einer Woche folgten sie dem Drachenhund. Zwei Tage, nachdem sie auf ihn getroffen waren, hatten sie die Großen Berge des Nordens überquert. Jetzt folgten sie einem schmalen Weg, der in nordöstlicher Richtung unterhalb eines Bergkamms entlangführte.

Der Hund hatte Baru als seinen neuen Herrn angenommen und gehorchte jedem Befehl des Hadati. Alles, was die anderen sagten, ignorierte er stur. Baru hatte den Hund Blutark genannt. In der alten Hadatisprache, so erklärte er, bezeichnete das einen alten Freund, den man widergetroffen hatte, oder der von einer langen Reise zurückgekehrt war. Arutha hoffte, das sei ein gutes Omen. Hoffentlich würden die, die den Hund aufgezogen hatten, seiner Truppe gegenüber ähnlich empfinden.

Zweimal hatte sich der Hund als sehr nützlich erwiesen, da er sie auf Gefahren aufmerksam gemacht hatte. Er konnte wittern, was selbst Barus und Martins Jägeraugen entging. Beide Male hatten sie Goblins überrascht, die am Wegesrand lagerten. Es war nur zu deutlich: Murmandamus ließ diesen Zugang zu den Nordlanden bewachen. Beide Begegnungen hatten auf Kreuzungen stattgefunden, an denen Wege ins Tal führten.

Vom Inclindel waren sie nach Südosten gezogen, hatten sich dann nach Osten gewandt und sich an der Nordseite der Berge entlanggeschlichen. In der Ferne konnten sie die riesigen Ausläufer der Nordlande bestaunen. Für die meisten Menschen im Königreich waren ›die Nordlande‹ eine gebräuchliche Bezeichnung für einen unbekannten Ort auf der anderen Seite der Berge, über dessen Natur allenfalls Spekulationen im Umlauf waren. Doch jetzt sahen sie die Nordlande vor sich liegen, und die Wirklichkeit dieses Landes ließ alle Mutmaßungen darüber als zu klein erscheinen. Nach Nordwesten hin erstreckte sich eine weite Ebene bis zu den fernen Nebeln am Horizont, die Donnernde Hölle. Nur wenige Männer aus dem Königreich hatten dieses grasbewachsene Land je betreten, und dann auch nur mit der Zustimmung der Nomaden, die hier zu Hause waren. Am östlichen Rand der Donnernden Hölle erhob sich eine Hügelkette, und dahinter lagen Länder, die niemals zuvor ein Mann aus dem Königreich betreten hatte. Hinter jeder Biegung des Weges, hinter jeder Kurve der Straße erwartete die Männer eine neue Aussicht.

Daß der Hund sich weigerte, weiter unten zu laufen, erfüllte sie mit Sorge, weil sie Martins Meinung nach in den Hügeln mehr Deckung finden würden als auf diesem offenen Pfad. So zogen sie im Zickzackkurs an den nördlichen Kämmen der Berge entlang und kamen nur dann und wann unter die Baumgrenze. An drei verschiedenen Stellen hatten sie Anzeichen dafür gefunden, daß dieser Weg kein natürlicher war, als hätte jemand, vor langer Zeit die verschiedenen Teilstücke miteinander verbunden.

Nicht zum ersten Mal bemerkte Roald: »Dieser Jäger hat sich aber weit von seinem Zuhause entfernt, das ist jedenfalls sicher.« Von der Stelle, an der sie die Leiche gefunden hatten, bis hierher hatten sie schon fast hundert Meilen hinter sich gebracht.

Baru sagte: »Ja, und das ist seltsam, weil die Drachenfanger bei uns immer für den Schutz eines ganz bestimmten Gebietes zuständig waren. Vielleicht ist er eine Zeitlang von den Trollen verfolgt worden.« Doch er wußte genau wie die anderen, eine solche Flucht war eine Sache weniger Meilen, und keine solche Strecke. Nein, es mußte einen anderen Grund geben, weshalb der Jäger soweit von Zuhause aufgefunden worden war.

Um sich die Zeit zu vertreiben, hatten Arutha, Martin und die Jungen angefangen, Barus Hadatidialekt zu lernen, im Hinblick auf den Tag, an dem sie die Verwandten von Blutarks Besitzer kennenlernen würden. Laurie und Roald sprachen fließend Yabonesisch und dazu ein paar Brocken der Mundart der Hadati, deshalb begriffen sie sehr schnell. Jimmy hatte die meisten Probleme, doch am Ende konnte er immerhin einfache Sätze bilden.

Dann kam ihnen Blutark den Weg zurück entgegengelaufen und wedelte wild mit dem Stummelschwanz. Ganz ungewöhnlich bellte er laut und drehte sich auf der Stelle im Kreis. Baru meinte: »Wie seltsam ...«

Normalemeise stand der Hund immer starr, wenn er Gefahr witterte, bis er angegriffen wurde oder selbst den Befehl zum Angriff erhielt. Baru und Martin ritten an den anderen vorbei, und der Hadati schickte den Hund voran. Blutark schoß los und war sofort um die nächste Biegung hinter einer hohen Felswand verschwunden, wo der Weg wieder nach unten führte.

Sie kamen um die Wegbiegung und zügelten die Pferde: Vor ihnen stand Blutark einem anderen Drachenhund gegenüber. Die beiden Hunde beschnüffelten sich und wedelten mit dem Schwanz. Doch hinter dem zweiten Hund stand ein Mann in einem schwarzen Lederharnisch mit einer Eisenmaske vor dem Gesicht. Er sah die Gefährten über einen Bessyhammer hinweg an, der auf einen langen Holzpfosten gebaut war. Die Worte, die er ihnen zurief, verloren sich in dem starken Wind.

Baru hob die Hände und schrie etwas, um ihre friedlichen Absichten klarzumachen. Doch plötzlich fielen von oben Netze herab, in denen sich alle sieben Reiter verfingen. Ein Dutzend Soldaten in brauner Lederkleidung sprang auf sie zu und rang Aruthas Truppe rasch von ihren Pferden. Kurz hintereinander wurden sie wie zur Jagd abgerichtete Vögel gefesselt. Der Mann in dem schwarzen Harnisch klappte den Pfosten zusammen und hängte ihn sich zusammen mit der Armbrust über die Schulter.

Er kam näher und tätschelte freundlich Blutark und seinen eigenen Hund.

Pferdegetrappel kündigte einen weiteren Trupp der Männer in Braun an. Einer der Männer sprach in der Sprache des Königreichs zu ihnen, allerdings mit einen starken Akzent. »Ihr kommt mit uns. Sprecht nicht, oder wir knebeln euch. Flieht nicht, oder wir töten euch.«

Baru nickte seinen Gefährten knapp zu, doch Roald wollte etwas sagen. Augenblicklich schob man ihm einen Knebel in den Mund und band ihm ein Tuch vor das Gesicht, um ihn zur Ruhe zu bringen. Arutha sah sich um und nickte den anderen zu. Die Gefangenen wurden rauh wieder in ihre Sättel gehievt, und ihre Füße an die Steigbügel gebunden. Ohne weitere Worte wandten sich die Reiter wieder bergabwärts und führten Arutha und die anderen mit sich.

 

Einen Tag und eine Nacht ritten sie. Kurze Pausen wurden angeordnet, weil sich die Pferde erholen mußten. Während die Tiere versorgt wurden, lockerte man Arutha und seinen Gefährten die Fesseln, damit sie ihre verkrampften Gliedmaßen entspannen konnten. Ein paar Stunden nach ihrem Aufbruch wurde Roald sehr zu seiner Erleichterung der Knebel aus dem Mund genommen, doch sie durften immer noch nicht sprechen.

Als es dämmerte, konnten sie sehen, daß sie die halbe Entfernung zwischen dem Weg auf dem Kamm und den Hügeln am Fuße der Berge zurückgelegt hatten. Sie kamen an einer kleinen Rinderherde vorbei, und die drei wachsamen und bewaffneten Hirten winkten ihnen zu. Kurz danach erreichten sie ein befestigtes Dorf.

Der äußere Wall war sehr robust; schwere Baumstämme waren dicht aneinandergefügt und mit Lehm verschmiert worden. Die Reiter mußten wegen der tiefen Gräben vor der Mauer um das Dorf herumreiten und kamen auf einer Seitenstraße auf einen Hügel. Zu beiden Seiten des Weges standen in den Gräben feuergehärtete hölzerne Spieße, die den Reiter, der hier vom Weg abkam, aufspießen würden. Roald sah sich um und flüsterte: »Sie müssen sehr liebenswerte Nachbarn haben.«

Einer der Wächter ritt daraufhin sofort an seine Seite und hielt den Knebel bereit, doch der Anführer winkte ihn zurück, da sie schon auf das Tor zuritten. Das Tor ging auf, und hinter der ersten Mauer entdeckten sie eine zweite. Es gab kein Außenwerk, dennoch schien der gesamte Bereich zwischen den Mauern ein gutgeeigneter Schlachtgrund zu sein. Als sie durch das zweite Tor kamen, bewunderte Arutha die einfache Kunstfertigkeit der Anlage. Eine moderne Armee konnte das Dorf zwar rasch einnehmen, jedoch nur unter großem Opfer. Banditen und Goblins würden mit Leichtigkeit zurückgeschlagen werden können.

Als sie innerhalb der Mauern waren, sah sich Arutha den Ort eingehend an. Es war ein kleines Dorf, kaum mehr als ein Dutzend Hütten, die alle aus lehmverschmiertem Flechtwerk errichtet worden waren. Im Hof spielten Kinder mit ernsten Augen. Sie trugen wamsähnliche Harnische und Dolche. Selbst die alten Männer waren bewaffnet, und einer hinkte, auf einen Speer anstatt einen Stock gestützt, an ihnen vorbei. Der Anführer des Trupps sagte: »Ihr dürft jetzt sprechen, denn die Regeln des Weges gelten hier nicht.« Er benutzte weiterhin die Sprache des Königreichs. Seine Männer schnitten die Seile auf, die die Gefangenen an die Steigbügel gefesselt hatten und halfen ihnen abzusteigen. Daraufhin bedeutete er ihnen mit einer Geste, sie sollten in eine der Hütten gehen.

Drinnen wandten sich Arutha und die anderen wieder dem Kommandanten der Patrouille zu. Blutark, der die ganze Zeit an Barus Seite gelaufen war, legte sich zu Füßen des Hadati nieder. Seine große Zunge hing ihm aus dem Maul, während er hechelte.

»Dieser Hund gehört einer seltenen Rasse an, die für unser Volk sehr, sehr bedeutend ist«, erklärte der Kommandant der Patrouille. »Wie habt ihr ihn bekommen?«

Arutha nickte Baru zu. »Wir haben seinen Herrn gefunden, der von Trollen getötet wurde«, sagte der Hadati. »Wir haben die Trolle getötet, und der Hund hat sich uns angeschlossen.«

Der Mann dachte nach. »Hättet ihr seinem Herrn etwas zuleide getan, hätte der Hund euch getötet oder wäre bei dem Versuch umgekommen. Also muß ich euch glauben. Doch diese Rasse wird besonders ausgebildet und gehorcht wenigen. Wie habt ihr ihm Befehle erteilt?«

Der Mann aus den Bergen sagte ein Wort, und der Hund setzte sich auf und spitzte die Ohren. Er sprach ein weiteres Wort, und der Hund legte sich wieder hin. »In meinem Dorf gab es eine ähnliche Rasse, obwohl die nicht so groß war wie diese.«

Der Kommandant kniff die Augen zusammen. »Wer bist du?«

»Ich bin Baru, genannt der Schlangentöter, aus der Familie der Ordwinson des Eisenbergclans. Ich bin ein Hadati.« Er sprach in der Mundart der Hadati, während er sein Bündel aufschnürte und seinen Tartan und seine Schwerter herausholte.

Der Kommandant nickte. Er antwortete in einer Sprache, die der von Baru so ähnlich war, daß sogar die anderen sie verstehen konnten. Die beiden Sprachen unterschieden sich allein in der Aussprache. »Es ist schon viele Jahre her, daß einer aus dem Geschlecht der Hadati über die Berge gekommen ist, Baru Schlangentöter, fast schon eine Generation. Das erklärt viel. Doch die Männer aus dem Königreich kommen gewöhnlich nur hierher, um Unfrieden zu stiften, und in der letzten Zeit nehmen sie einfach überhand. Ich halte euch für etwas anderes als diese Abtrünnigen, doch das ist eine Sache, die der Protektor in seiner Weisheit entscheiden muß.« Er stand auf. »Wir werden heute nacht hier bleiben, und morgen brechen wir wieder auf. Euch wird Essen gebracht werden. In der Ecke steht ein Eimer. Verlaßt diese Hütte nicht. Solltet ihr das versuchen, werdet ihr wieder gefesselt, solltet ihr Widerstand leisten, getötet.«

Als er schon in der Tür stand, fragte Arutha: »Wohin bringst du uns?«

Der Mann sah sich noch einmal um. »Nach Armengar.«

 

Im ersten Tageslicht ritten sie los. Sie verließen das Hochland und kamen in einen dunklen Wald. Blutark hielt sich ohne Probleme neben Barus Pferd. Die Männer hatten ihnen abermals verboten zu sprechen, doch sie hatten ihre Waffen zurückbekommen. Für Arutha sah es so aus, als würden ihre Wächter erwarten, daß sie sich wie Verbündete benahmen, falls es Schwierigkeiten geben sollte. Da sie höchstwahrscheinlich sowieso nur auf Diener von Murmandamus stoßen würden, lagen die Männer des Hochlandes mit ihrer Annahme ganz richtig. An einigen Stellen waren offensichtlich Bäume gefallt worden, und der Weg schien regelmäßig benutzt zu werden. Dann kamen sie über eine Wiese, auf der eine kleine Herde Rinder graste, bei denen drei Männer Wache hielten. Es waren Hirten, doch mit Speer, Schwert und Schild bewaffnet.

Noch zwei weitere Male kamen sie an diesem Tag an Herden vorbei, einmal an Rindern, einmal an Schafen. Beide wurden von Kriegern bewacht, einige davon waren Frauen. Bei Sonnenuntergang erreichten sie ein weiteres Dorf, und wieder wurden sie angewiesen, das Gebäude nicht zu verlassen.

Am Morgen des nächsten Tages, des vierten ihrer Gefangenschaft, kamen sie in einen niedrigen Canon, der einem Fluß aus den Bergen folgte. Sie ritten bis Mittag daran entlang, dann erreichten sie eine langgezogene Erhebung. Die Straße wand sich um den Berg, und sie verließen den Fluß, der sich seinen Weg durch das Gestein gegraben hatte. Fast eine Stunde lang konnten sie ihn nicht mehr sehen. Als sie den Berg umrundet hatten, warfen sich Arutha und seine Freunde überraschte Blicke zu.

Der Anführer der Gruppe, der, wie sie erfahren hatten, Dwyne hieß, wandte sich zu ihnen um und sagte: »Armengar.«

Sie konnten noch längst nicht alle Einzelheiten der Stadt erkennen, doch was sie sahen, erstaunte sie zutiefst. Die Stadtmauer war fast zwanzig Meter hoch. Alle zwanzig Meter gab es Erkertürme, die es Bogenschützen erlauben würden, den Bereich vor der Mauer mit Pfeilen zu bedecken. Während sie näherkamen, entdeckten sie mehr und mehr Einzelheiten. Das Außenwerk war riesig, und fast dreißig Meter lang. Die Tore erschienen eher wie bewegliche Teile der Mauer. Der Fluß aus den Bergen bildete den Stadtgraben, und reichte bis an die Mauer heran; zwischen Wasser und Stein war kaum ein Fußbreit Platz, um darauf zu treten.

Während sie auf die Stadt zuhielten, öffneten sich die Tore mit einer Schnelligkeit, die man bei ihrer Masse nicht erwartet hätte, und eine Gruppe Reiter kam aus dem Innern. Die Männer ritten Aruthas Begleitern in flottem Tempo entgegen. Als die beiden Gruppen aneinander vorbeiritten, hoben die Reiter ihre Hände zum Gruß. Arutha bemerkte, daß sie alle auf gleiche Weise gekleidet waren. Männer wie Frauen trugen Lederkappen auf dem Kopf. Ihr Harnisch war jeweils aus Leder oder Metall. Alle trugen ein Schwert und einen Schild: die eine Hälfte dazu noch Lanzen, die andere Bögen. Die Schilde hatten keine Wappen oder Zeichen. Die Truppe war schnell an ihnen vorbei, und Arutha richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Stadt. Sie überquerten eine feste Brücke über den Stadtgraben.

Dann ritten sie durch das Stadttor, und Arutha erhaschte einen Blick auf ein Banner, das an der Ecke des Außenwerks im Wind flatterte. Er konnte nur die Farben erkennen, Gold und Schwarz, nicht die Zeichnung; trotzdem beunruhigte ihn etwas an diesem Banner. Hinter ihnen schlossen sich die äußeren Tore.

Sie schienen aus eigenem Antrieb zuzuschwingen, und Martin sagte: »Es muß einen Mechanismus geben, der sie aus den Mauern schiebt.« Arutha sah sich nur schweigend um. »Hier kann man mit hundert oder gar hundertfünfzig Reitern einen Ausfall machen, ohne die inneren Tore öffnen zu müssen«, fuhr Martin fort, während er die Größe des Schlachtgrundes betrachtete. Arutha nickte. So ein großes Außenwerk hatte er noch nie gesehen. Die Wände waren fast zehn Meter stark. Dann öffneten sich die inneren Tore, und sie betraten Armengar.

Die Stadt war durch einen etwa hundert Meter breiten Burghof von der Mauer getrennt. Dann begannen die dichtgedrängten Gebäude, zwischen denen sich schmale Straßen wanden. Nichts erinnerte an die breiten Prachtstraßen in Krondor, und keine Schilder verrieten den jeweiligen Zweck der Häuser. Sie folgten ihrer Eskorte und bemerkten einige wenige Leute in den Straßen. Wenn hier Geschäfte getrieben wurden, so bekamen Arutha und seine Gefährten nichts davon mit. Überall, wo sie hinsahen, liefen die Menschen im Harnisch und mit Waffen herum. Sie sahen nur eine Ausnahme: eine Frau, die offensichtlich hochschwanger war. Dennoch steckte in der Schärpe um ihre Taille ein Dolch. Selbst Kinder, nicht älter als sieben oder acht, trugen Waffen.

Die Straßen kreuzten sich immer wieder mit anderen. »Diese Stadt scheint ohne Plan gebaut worden zu sein«, meinte Locklear.

Arutha schüttelte den Kopf. »Nein, es ist eine Stadt, die nach einem genauen Plan und zu einem klaren Zweck gebaut wurde. Gerade Straßen begünstigen Händler und sind einfach zu bauen, wenn das Gelände eben oder leicht zu bearbeiten ist. Gewundene Straßen findet man nur dort, wo es schwierig ist, gerade zu bauen, wie meinetwegen in Rillanon, das auf felsigen Hügeln errichtet wurde, oder der Palast in Krondor. Diese Stadt liegt auf einer Hochebene, also wurden diese Straßen absichtlich so gewunden angelegt. Martin, was hältst du davon?«

»Ich denke, falls die Mauer durchbrochen werden sollte, könnte man von hier bis zum anderen Ende der Stadt überall in einen Hinterhalt geraten.« Er zeigte nach oben. »Seht mal, alle Gebäude haben die gleiche Höhe. Ich bin mir sicher, die Dächer sind flach und von innen zu betreten. Ein perfekter Ort für Bogenschützen. Und seht euch die unteren Stockwerke an.«

Jimmy und Locklear sahen sich um und verstanden, was der Herzog von Crydee meinte. Jedes Gebäude hatte im Erdgeschoß lediglich eine einzige Tür, die aus massivem Holz gefertigt und mit Metall verstärkt war. Es gab keine Fenster. Martin sagte: »Diese Stadt wurde nur zur Verteidigung gebaut.«

Dwyne drehte sich um und sagte: »Du achtest auf viele Dinge.« Dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Weg durch die Stadt zu. Gelegentlich sahen Bürger für einen Moment auf, als die Fremden vorbeiritten, und machten sich dann wieder an ihre Geschäfte.

Sie kamen aus den dicht gedrängten Gebäuden heraus auf einen Marktplatz. Überall, wohin sie sahen, standen Marktstände, an denen Leute kauften und verkauften. Arutha sagte: »Seht mal«, und zeigte auf eine Zitadelle. Sie schien aus einer riesigen Klippe herauszuwachsen, gegen die die Stadt gebaut war. Wenigstens dreißig Stockwerke hoch erhob sich die Festung. Eine Mauer, dreißig Fuß hoch, umgab die Zitadelle, und um die Mauer floß ein Wassergraben. Jimmy meinte: »Scheinbar erwarten sie unangenehme Gäste.«

»Ihre Nachbarn sind ein lästiger Haufen«, bemerkte Roald.

Einige der Wachen, die die Sprache des Königreichs verstanden, lachten lauthals über diese Bemerkung und nickten zustimmend. Arutha sagte: »Wenn die Marktstände abgebaut sind, reitet man hier über einen Burghof, und oben von der Mauer hat man freies Schußfeld. Wer diese Stadt einnehmen will, muß eine Unmenge von Opfern in Kauf nehmen.«

Dwyne sagte: »So war das auch gedacht.«

Sie ritten in die Zitadelle, und ihnen wurde befohlen abzusteigen. Sie folgten Dwyne zu einem Kerker, der allerdings geräumig und sauber war. Sie wurden zu einer großen, von einer Messinglaterne erleuchteten Gemeinschaftszelle geführt. Dwyne bedeutete ihnen einzutreten. Er sagte: »Ihr werdet hier warten. Wenn ihr Alarm hört, kommt ihr auf den Hof und tut, wie euch gesagt wird. Ansonsten wartet ihr hier, bis der Protektor nach euch schickt. Ich werde euch Essen bringen lassen.« Daraufhin ging er.

Jimmy sah sich um und fragte: »Verschließen sie die Tür nicht, und nehmen sie uns unsere Waffen nicht ab?«

Baru entgegnete: »Weshalb machst du dir darum Sorgen?«

Laurie ließ sich auf eine alte Decke sinken, die über etwas Stroh ausgebreitet war. »Wir können so oder so nirgendwo hingehen. Wir können nicht so tun, als wären wir Eingeborene, und wo sollten wir uns verstecken? Und ich habe keine Lust, mir den Weg nach draußen zu erkämpfen.«

Jimmy setzte sich neben Laurie nieder. »Du hast recht. Also, was machen wir jetzt?« Arutha legte sein Schwert ab. »Wir warten.«

 

Sie warteten einige Stunden. Ihnen wurde Essen gebracht, und sie aßen. Als sie ihr Mahl beendet hatten, kehrte Dwyne zurück und sagte: »Der Protektor kommt. Ich brauche eure Namen und den Zweck eurer Reise.« Alle Blicke wandten sich Arutha zu, der sagte: »Ich glaube, wir gewinnen nichts, wenn wir die Wahrheit verbergen, aber vielleicht gewinnen wir etwas, wenn wir offen antworten.« Zu Dwyne sagte er: »Ich bin Arutha, der Prinz von Krondor.« Dwyne fragte: »Ist das ein Titel?«

»Ja«, antwortete Arutha. »Wir wissen nur noch wenig über das Königreich, wir, die Menschen von Armengar, haben keine solchen Titel. Ist er wichtig?«

Roald platzte fast der Kragen. »Verdammt, Mann, er ist der Bruder des Königs, und Herzog Martin auch. Er ist der zweitmächtigste Mann des Königreichs.«

Dwyne schien das wenig zu beeindrucken. Er ließ sich die anderen Namen geben, dann fragte er: »Und weshalb seid ihr hier?«

Arutha sagte: »Ich glaube, wir sagen das besser gleich deinem Protektor.« Dwyne war offensichtlich von dieser Antwort nicht im geringsten gekränkt und verließ sie.

Eine weitere Stunde verging, dann flog die Tür auf. Dwyne trat ein, und einen Schritt hinter ihm folgte ein blonder Mann. Arutha sah erwartungsvoll auf; vielleicht war das der Protektor. Es war der erste Mann, den er hier sah, der keinen braunen Harnisch trug. Über einem roten, bis zum Knie reichenden Wams trug er ein langes Kettenhemd. Seine Kettenhaube hatte er zurückgeschoben, und sein Kopf war unbedeckt. Das Haar war kurzgeschnitten, und er war sauber rasiert. Sein Gesicht hätten viele wahrscheinlich als offen und ehrlich bezeichnet, doch in seinen Augen lag eine ausgesprochene Härte, als er die Gefangenen betrachtete. Er sagte nichts, sah nur von einem zum anderen. Er studierte Martins Gesicht, als entdecke er darin etwas Vertrautes. Dann sah er Arutha an. Ein Moment lang blieb sein Blick auf dem Prinzen liegen, wobei seine Augen kein Gefühl verrieten. Er nickte Dwyne zu, drehte sich um und verließ den Kerker.

Martin sagte: »Irgend etwas an diesem Kerl stimmt nicht.«

Arutha fragte: »Was?«

»Ich weiß nicht wieso, aber ich könnte schwören, ich habe ihn schon einmal gesehen. Und auf seiner Brust trug er ein Wappen, obwohl ich es durch die Ketten nicht erkennen konnte.«

Kurze Zeit später öffnete sich die Tür abermals. Wer auch immer davor stand, blieb draußen, und nur seine Silhouette war sichtbar. Doch dann ließ sich plötzlich schallendes Gelächter vernehmen, und der Mann trat vor. »Ich will der Sohn eines Heiligen sein! Es ist tatsächlich wahr«, sagte er, und auf seinem Gesicht mit dem graumelierten Bart breitete sich ein feistes Grinsen aus.

Arutha, Martin und Jimmy saßen da und starrten den Mann ungläubig an. Arutha erhob sich langsam und konnte seinen Augen nicht trauen. Vor ihm stand derjenige, von dem er am wenigsten erwartet hätte, ihn hier zu finden. Jimmy sprang auf und rief: »Amos!«

Amos Trask, ehemals Pirat und Kämpfer an Aruthas und Martins Seite im Spaltkrieg, betrat die Zelle. Der stämmige Kapitän umarmte Arutha wie ein Bär, dann wiederholte er das gleiche bei Martin und Jimmy Rasch wurde er den anderen vorgestellt. Arutha fragte: »Wie seid Ihr hierhergekommen?«

»Das ist eine lange Geschichte, mein Sohn, doch jetzt ist nicht der rechte Moment dafür. Der Protektor erwartet das Vergnügen Eurer Gesellschaft, und er hat nicht die Gabe, gnädig zu warten. Wir können die Geschichten hinterher austauschen. Erst einmal müßt Ihr und Martin mit mir kommen. Die anderen werden hier warten.«

Martin und Arutha folgten Amos durch den Gang und die Treppen hinauf zum Hof. Er überquerte ihn rasch auf das Hauptgebäude der Zitadelle zu und begann, noch schneller zu gehen. »Ich kann Euch nicht viel mehr sagen, außer daß wir uns beeilen müssen«, sagte er, als sie eine eigentümliche Plattform in einer Art Turm erreicht hatten. Er bedeutete den anderen, sich neben ihn zu stellen. Daraufhin zog er an einem Seil, und plötzlich hob sich die Plattform.

»Was ist das?« erkundigte sich Martin.

»Eine Plattform zum Heben, ein Aufzug. Damit bringen wir schwere Geschosse zu den Katapulten auf dem Dach. Die Anlage wird von einigen Pferden betrieben, die unten an eine Winde geschirrt sind. Dieses Wunderding bewahrt einen alten Kapitän davor, daß er siebenundzwanzig Stockwerke Treppen steigen muß. Meine Lunge ist auch nicht mehr das, was sie einmal war, Leute.« Seine Stimme wurde ernst. »Nun, hört zu. Ich weiß, Ihr habt hundert Fragen, doch die will im Moment niemand hören. Ich werde Euch alles erklären, nachdem Ihr mit Einauge gesprochen habt.«

»Ist das der Protektor?« fragte Arutha.

»Das ist er. Nun, ich weiß nicht, wie ich es Euch sagen soll, aber es wird eine böse Überraschung für Euch werden. Reißt Euch zusammen, bis Ihr und ich uns setzen und reden können. Martin, werft auch Ihr ein Auge auf diesen Kerl.« Er legte Arutha die Hand auf die Schulter und lehnte sich an ihn. »Schiffskamerad, denkt daran, hier seid Ihr kein Prinz. Ihr seid ein Fremder, und für diese Leute hier heißt das nichts Gutes. Fremde werden in Armengar selten willkommen geheißen.«

Der Aufzug hielt, und sie stiegen aus. Amos eilte einen langen Gang hinunter. Auf der linken Seite erlaubte eine Reihe gewölbter Fenster eine ungehinderte Aussicht über die Stadt und die Ebene dahinter. Martin und Arutha konnten nur einen kurzen Blick erhaschen, doch der war ausgesprochen beeindruckend. Sie beeilten sich, als Amos sich zu ihnen umdrehte und ihnen mit einer Geste zu verstehen gab, daß sie dicht bei ihm bleiben sollten. Der blonde Mann wartete vor einer Tür auf sie. »Warum habt Ihr nichts gesagt?« zischte er Amos an.

Amos deutete mit dem Daumen auf die Tür und meinte: »Er wollte einen vollständigen Bericht von Euch. Ihr wißt, wie er manchmal ist. Keine persönlichen Sachen, solange die Geschäfte nicht abgeschlossen sind. Er zeigt es zwar nicht, aber er nimmt es sehr ernst.«

Der blonde Mann nickte mit grimmigem Gesicht. »Ich kann es kaum glauben. Gwynnath tot. Das ist ein harter Schlag für uns alle.« Er hatte das Kettenhemd abgelegt. Auf seinem Wams blinkte über dem Herzen ein kleines Zeichen in Rot und Gold, doch er war schon durch die Tür verschwunden, bevor Arutha die Einzelheiten des Wappens hatte erkennen können. Amos sagte: »Die Patrouille des Protektors wurde überfallen, und einige seiner Leute sind gefallen. Er ist in selten schlechter Laune, weil er sich selbst die Schuld daran gibt, also seid vorsichtig. Kommt, er schneidet mir die Ohren ab, wenn wir noch länger verweilen.«

Amos drückte die Tür auf und bedeutete den anderen, ihm zu folgen. Sie betraten eine Art Versammlungsraum, der von einem großen runden Tisch in der Mitte beherrscht wurde. An der gegenüberliegenden Wand spendete ein massiver Kamin Wärme und Licht. Viele Karten bedeckten die Wände - abgesehen von der linken, in der sich ebensolche Fenster wie auf dem Gang befanden -, und über dem Tisch an der Decke leuchtete ein großer Kerzenleuchter.

Vor dem Kamin stand der blonde Mann und sprach mit einem anderen, der ganz und gar in Schwarz gekleidet war, vom Rock über die Hose bis hin zum Kettenhemd, das er noch nicht abgelegt hatte. Seine Kleidung war über und über mit Staub bedeckt, und sein Gesicht wurde von einer großen schwarzen Augenklappe beherrscht. Das Haar war zu gleichen Teilen grau und schwarz, doch seine Körperhaltung ließ keine Rückschlüsse auf sein Alter zu. Für einen Moment fühlte sich Arutha an eine bestimmte Person erinnert. Er warf Martin einen Blick zu, und der erwiderte ihn. Es war eher das Auftreten als die Erscheinung, die sie beide an ihren Vater denken ließen.

Dann trat der Mann vor, und Arutha konnte das Abzeichen auf seinem Rock deutlich erkennen. Ein goldener Adler breitete seine Flügel auf schwarzem Grund aus. Arutha wußte jetzt, warum er sich so unbehaglich gefühlt hatte, als er das Banner am Tor gesehen hatte. Nur ein einziger Mann auf dieser Welt trug dieses Wappen. Einst hatte er zu den besten Generälen des Königreichs gezählt, dann war er vom König zum Verräter erklärt worden, weil ihm die Schuld am Tod von Anitas Vater gegeben wurde. Hier stand der Mann, der der meistgehaßte Feind ihres Vater gewesen war. Und dieser Mann, den die Leute von Armengar als Protektor bezeichneten, winkte sie zu zwei Stühlen. Seine tiefe Stimme klang kommandierend, obwohl er leise sprach. »Wollt Ihr Euch nicht setzen, ... Cousins?« fragte Guy du Bas-Tyra.

 

Aruthas Hand faßte den Griff seines Schwertes einen Moment lang fester, doch er sagte nichts, während er und Martin Platz nahmen. Hundert Fragen schossen ihm durch den Kopf. Schließlich sagte er: »Wie -«

Guy unterbrach ihn, als er sich setzte. »Das ist eine lange Geschichte. Ich überlasse es lieber Amos, sie Euch zu erzählen. Im Augenblick habe ich andere Sorgen.« Auf seinem Gesicht zeigte sich ein schmerzlicher Ausdruck. Er wandte sich kurz ab und dann wieder den beiden Brüdern zu. Er betrachtete Martin eingehend. »Ihr seht ein wenig so aus wie Borric in seinen jungen Jahren, wußtet Ihr das?«

Martin nickte.

Guy sagte zu Arutha. »Ihr seht ihm auch irgendwie ähnlich, doch Ihr kommt eher nach Eurer Mutter. Die Partie um die Augen ... und vor allem ihre Farbe.« Das letzte hatte er sehr leise gesagt. Dann veränderte sich seine Stimme, als ein Soldat Krüge und Bier brachte. »In Armengar gibt es keinen Wein. Die Kunst des Weinanbaus ist verlorengegangen, da das Klima für die Weinstöcke zu rauh ist.

Aber sie machen ein sehr gutes Stout hier, und ich habe Durst.

Trinkt mit mir, wenn Ihr mögt.« Er schüttete sich einen Krug ein, und Arutha und Martin konnten sich selbst bedienen. Guy leerte seinen Krug, und für einen Moment fiel die starre Maske von seinem Gesicht ab. »Götter, bin ich müde.«

Dann sah er die beiden Brüder wieder an. »Also dann, als Armand mir berichtete, wen Dwyne hierhergebracht hat, konnte ich kaum meinen Ohren trauen. Aber jetzt sehe ich es mit eigenen Augen.«

Aruthas Blick schweifte kurz zu dem hochgewachsenen blonden Mann, der vor dem Kamin kauerte. »Armand?« Er betrachtete das Wappen, ein nach rechts gebogener Schild mit einem roten Drachen auf goldenen Grund und einem aufrecht stehenden Löwen in Gold auf rotem Grund.

Martin sagte: »Armand de Sevigny!« Der Mann neigte seinen Kopf dem Herzog zu.

»Baron von Gyldenholt? Marschall der Ritter von St. Günther?« fragte Arutha.

Martin fluchte. »Ich bin ein Dummkopf. Ich wußte, ich hatte ihn schon einmal gesehen. Er war im Palast von Rillanon, in den Tagen, bevor du zu uns gestoßen bist, Arutha. Doch am Tag der Krönung, als du angekommen bist, war er nicht da.«

Der blonde Mann lächelte schwach. »Zu Euren Diensten, Hoheit.«

»Soweit ich mich erinnern kann, nicht. Ihr wart nicht unter denen, die Lyam die Lehenstreue geschworen haben.«

Der blonde Mann schüttelte den Kopf. »Das stimmt.« Seine Miene drückte fast so etwas wie Bedauern aus.

Guy sagte: »Nun ja, auch das gehört alles zu der Geschichte, wie wir hier gelandet sind. Im Moment muß ich allerdings erst einmal erfahren, warum Ihr hier seid, und ob Eure Anwesenheit für diese Stadt irgendeine Gefahr darstellt. Also, weshalb seid Ihr in den Norden gekommen?«

Arutha saß schweigend da, hatte die Arme verschränkt und betrachtete den Protektor mit zusammengekniffenen Augen. Es hatte ihn schon etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, daß ausgerechnet Guy du Bas-Tyra diese Stadt kontrollierte. Er zögerte mit der Antwort. Daß er unbedingt Murmandamus finden wollte, mochte den Interessen von Guy entgegenlaufen. Und Arutha stand allem, was Guy betraf, ausgesprochen mißtrauisch gegenüber. Guy hatte offen versucht, nach der Krone zu greifen, und dabei das Land beinahe in einen Bürgerkrieg gestürzt. Anitas Vater war auf seinen Befehl hin getötet worden. Du Bas-Tyra verkörperte das, was Lord Borric seinem Sohn als das Verabscheuungswürdigste vorgestellt hatte. Er stellte das dar, was man von einem Lord aus dem Osten erwartete: Er war scharfsinnig und gerissen, und hatte jede Menge Erfahrungen in den Feinheiten von Intrige und Verrat. Über de Sevigny wußte Arutha wenig; man hatte ihn seinerzeit zu den fähigsten Herrschern im Osten gezählt, doch er war schon immer Guys Vasall gewesen. Und Amos mochte und vertraute der Prinz zwar, allerdings war Trask früher ein Pirat gewesen, und er nahm das Gesetz immer noch nicht allzu wörtlich. Nein, es gab ausreichend Gründe, vorsichtig zu sein.

Martin sah Arutha an und wartete auf seine Antwort. Das Benehmen des Prinzen trotzte allen äußeren Umständen, doch Martin wußte, wie sehr sein Bruder innerlich mit sich rang. Das unerwartete Treffen hatte ihn geschockt, und den Prinzen verlangte danach, seine Mission ungehindert durchzuführen, nämlich Murmandamus zu finden und zu töten.

Martin sah sich um, und bemerkte, daß auch Amos und Armand besorgt wirkten, weil die Antwort von Arutha auf sich warten ließ.

Als keine Antwort kam, schlug Guy mit der Hand auf den Tisch. »Strapaziert meine Geduld nicht zu lange, Arutha.« Er hob den Zeigefinger. »In dieser Stadt geltet Ihr nicht als Prinz. In Armengar hat nur eine Stimme das Sagen, und das ist meine!« Er lehnte sich zurück, und das Gesicht mit der Augenklappe wurde rot. Mit gedämpfter Stimme fuhr er fort: »Ich ... will nicht unverschämt sein. Doch ich habe auch andere Sorgen.«

Er verfiel in nachdenkliches Schweigen und starrte sie eine Weile an. Endlich sagte er: »Ich habe keine Ahnung, Arutha, was Ihr hier macht, aber entweder lenkt etwas sehr Eigentümliches Eure Entscheidungen, oder, zum Teufel, Ihr habt nichts von Eurem Vater gelernt. Der Prinz von Krondor und zwei der mächtigsten Herzöge des Königreichs, von Salador und Crydee, reiten gemeinsam mit einem Söldner, einem Hadatikrieger und zwei Jungen in die Nordlande hinauf? Entweder habt Ihr keinen Verstand, oder Ihr seid die gerissensten Kerle, die ich kenne.«

Arutha blieb still, doch schließlich sagte Martin: »Es hat sich einiges verändert, seit Ihr zuletzt im Königreich wart, Guy«

Guy verfiel wieder in Schweigen. Schließlich sagte er: »Ich glaube, dahinter steckt eine Geschichte, die ich erfahren sollte. Ich kann Euch meine Hilfe nicht versprechen, doch ich denke, unsere Ziele erweisen sich vielleicht als die gleichen.«

An Amos gewandt, sagte er: »Sie sollen bessere Quartiere und Essen bekommen«, dann zu Arutha: »Ich gebe Euch Zeit bis zum Morgen. Wenn wir uns das nächste Mal unterhalten, solltet Ihr meine Geduld nicht wieder auf die Probe stellen. Ich muß wissen, was Euch hierhergeführt hat. Das ist lebenswichtig.« Seine Stimme verriet eine heftige Gefühlsbewegung, als er sagte: »Ich werde den größten Teil der Nacht hier zu finden sein.«

Mit einer Handbewegung befahl er Amos, sie hinauszuführen. Arutha und Martin folgten dem Seemann aus dem Saal. Amos blieb stehen, nachdem sich die Tür geschlossen hatte. Er sah Arutha und Martin einen Moment lang an. »Für so helle Köpfe habt Ihr Euch ziemlich dumm benommen.«

Amos wischte sich den Mund mit der Rückseite der Hand ab. Er rülpste und stopfte sich dann noch ein Stück Brot mit Käse in den Mund. »Und dann?«

»Dann«, antwortete Martin, »als wir zurückkamen, hatte Anita innerhalb einer Stunde Aruthas Wort, und Carline und Laurie verlobten sich nicht viel später.«

»Ha! Erinnert Ihr Euch noch an die erste Nacht außerhalb von Krondor an Bord der Seetaube? Ihr habt mir erzählt, daß Euer Bruder am Haken hängt - und niemals eine Chance hätte.«

Arutha lächelte über die Bemerkung. Sie saßen um einen großen Korb voller Essen und ein Faß Bier herum, in einem geräumigen Zimmer, das zu den Gemächern gehörte, die man ihnen überlassen hatte. Es gab keine Diener - Soldaten hatten das Essen gebracht -, und sie bedienten sich selbst. Baru kratzte Blutark abwesend hinter den Ohren, während der Hund auf einem Knochen herumkaute. Es hatte niemanden gekümmert, daß der Drachenhund bei dem Hadati blieb. Dann sagte Arutha: »Amos, jetzt haben wir schon eine halbe Stunde geschwatzt. Wirst du uns nun erzählen, was hier vor sich geht? Wie in aller Welt bist du an diesen Ort gekommen?«

Amos sah von einem zum anderen. »Was hier vor sich geht, ist, daß Ihr gewissermaßen Gefangene seid, und deshalb bleibt Ihr hier, bis Einauge seine Meinung ändert. Also, jedenfalls habe ich schon einige Kerkerzellen gesehen, und diese ist mit Abstand die bequemste von allen.« Mit einer Handbewegung deutete er auf den großen Raum. »Nein, wenn Ihr schon im Gefängnis sitzen müßt, dann habt Ihr es hiermit gut getroffen.« Er kniff die Augen zusammen. »Nur, verliert nicht aus den Augen, daß es ein Gefängnis ist. Seht mal, Arutha. Ich habe mit Euch und Martin ausreichend Jahre verbracht, um Euch ein wenig zu kennen. Ich kann mich nicht daran erinnern, daß Ihr jemals ein so mißtrauischer Haufen wart, also nehme ich natürlich an, irgend etwas in den letzten beiden Jahren hat Euch dazu gebracht, die Segel auf diese Weise zu setzen. Aber hier besteht das Leben, das Atmen und das Essen aus Vertrauen, oder man ist ein toter Mann. Versteht Ihr mich?«

»Nein«, entgegnete der Prinz. »Was meint Ihr?«

Amos dachte eine Weile nach, dann sagte er: »Diese Stadt ist ausschließlich von Feinden umgeben. Vertrauen zum Nachbarn ist die einzige Art, sich hier am Atmen zu halten.« Er machte eine Pause. »Seht einmal, ich werde Euch erzählen, wie wir hierherkamen, und dann werdet Ihr vielleicht alles verstehen.«

Amos lehnte sich zurück, schüttete sich einen weiteren Krug Bier ein und begann mit seiner Geschichte. »Also, zum letzten Mal habe ich Euch gesehen, als ich an Bord des Schiffes Eures Bruders aus dem Hafen gesegelt bin.« Martin und Arutha mußten bei der Erinnerung daran beide lächeln. »Nun, wenn Ihr daran zurückdenkt, habt Ihr damals jeden in der Stadt nach Guy suchen lassen. Und Ihr habt ihn nicht gefunden, weil er sich an einem Ort versteckt hatte, wo niemand ihn vermutet hat.«

Martin riß erstaunt die Augen auf, eine der wenigen unbedachten Gefühlsäußerungen, die jemals einer der Anwesenden bei ihm gesehen hatte. »Auf dem Schiff des Königs?«

»Als er hörte, König Rodric hätte Lyam zu seinem Nachfolger bestimmt, verließ Guy sofort Krondor und machte sich nach Rillanon auf. Er hatte die vage Hoffnung, wenigstens einen Teil seiner Pläne noch durchführen zu können, bis sich die Versammlung der Lords traf und die Nachfolge bestätigte. Zu der Zeit, als Lyam nach Rillanon kam, hatten sich bereits genügend Lords aus dem Osten versammelt, und Guy konnte die Lage im Lande beurteilen. Es war klar, Lyam würde König werden - das war, ehe jemand etwas von Euch wußte, Martin -, also fand sich Guy damit ab, daß man ihn wegen Hochverrats anklagen würde. Dann, am Morgen der Versammlung und der Krönung, ging auf einmal das Gerücht um, Martin wäre von Borric als Sohn anerkannt worden, also wartete Guy ab, was später am Nachmittag geschehen würde.«

»Er wartete auf seine Gelegenheit«, bemerkte Arutha.

»Urteilt nicht so voreilig«, schnappte Amos; dann fuhr er leiser fort. »Er machte sich Sorgen. Es konnte zum Bürgerkrieg kommen, und für den Fall war er zum Kämpfen bereit. Und während er abwartete, was geschehen würde, wußte er, daß Caldrics Männer herumschnüffelten. Er war ihnen mehrere Male knapp entkommen. Guy hatte immer noch Freunde in der Hauptstadt, und einige von ihnen hatten ihn an Bord der Königlichen Schwalbe - meine Güte, was für ein schönes Schiff das war - geschmuggelt, gerade als die Ishapianischen Priester den Palast erreichten und mit der Krönung begannen. Jedenfalls, als ich mir das Schiff ... auslieh, entdeckten wir, daß wir einen blinden Passagier hatten.

Nun, ich war bereit, Guy und Armand einfach über Bord zu werfen oder umzukehren und sie Euch gefesselt zu übergeben, aber Guy kann auf seine Art ein sehr überzeugender Bursche sein, und so stimmte ich zu, ihn nach Bas-Tyra zu bringen -natürlich zu einem gesunden Preis.«

»So konnte er also sein Komplott gegen Lyam schmieden?« warf Arutha ungläubig ein.

»Verdammt, Junge!« brüllte Amos. »Da hab' ich Euch zwei verdammte kurze Jahre aus den Augen gelassen, und Ihr habt nichts anderes zu tun, als dickköpfig und begriffsstutzig zu werden.« Er sah Martin an und meinte: »Muß an der Gesellschaft liegen, in der Ihr Euch bewegt.«

Martin sagte zu seinem Bruder: »Laß ihn doch zu Ende erzählen.«

»Nein, er wollte keinen Verrat begehen. Er wollte nur seine Angelegenheiten in Ordnung bringen. Schließlich wußte er, Lyam wollte seinen Kopf. Er hatte vor, einige Dinge zu klären, und dann sollte ich ihn zurück nach Rillanon bringen, wo er sich stellen wollte.«

Arutha wirkte erstaunt.

»So ziemlich das einzige, was er wirklich wollte, war Gnade für Armand und seine anderen Anhänger. Jedenfalls erreichten wir Bas- Tyra und blieben einige Tage. Dann erfuhren wir von dem Bann. Guy und ich waren uns zu der Zeit schon etwas nähergekommen, also besprachen wir uns und trafen eine andere Abmachung. Er beschloß, das Königreich zu verlassen und sich eine andere Heimat zu suchen. Er ist ein guter General, und viele würden ihn gern in ihren Diensten sehen, besonders Kesh, doch er wollte an einen Ort gehen, an dem er niemals gegen die Soldaten des Königreichs antreten müßte. Wir beabsichtigten, nach Osten zu gehen und uns dann südlich ins Kaiserreich Groß-Kesh zu begeben. Dort unten hätten wir uns vielleicht einen Namen machen können. Er wollte General werden, und ich wollte mich als Admiral versuchen. Wir hatten einen Haufen Ärger mit Armand, denn Guy wollte ihn nach Gyldenholt zurückschicken, doch Armand ist manchmal ein bißchen komisch. Er hatte Guy Jahre zuvor Treue geschworen, und weil er sich Lyam nicht verpflichtet hatte, wollte er die Dienste seines Lehnsherren nicht verlassen. Das war die verfluchteste und dümmste Begründung, die ich je gehört habe. Jedenfalls war er weiterhin mit uns unterwegs, und wir setzten die Segel in Richtung des Kaiserreichs.

Doch drei Tage, nachdem wir Bas-Tyra verlassen hatten, verfolgte uns eine Flotte Ceresischer Piratenschiffe. Mit zweien oder gar dreien dieser Bastarde hätte ich es gern aufgenommen, doch mit fünfen? Die Schwalbe war eine schnelle Dame, doch die Piraten blieben uns auf den Fersen. Vier Tage lang war der Himmel klar, die Sicht hervorragend und der Wind prächtig. Für Piraten auf der See des Königreichs waren sie ein gerissener Haufen. Sie verteilten sich in alle Himmelsrichtungen, und so konnte ich ihnen auch des Nachts nicht entkommen. Jede Nacht kreuzte ich herum, abwechselnd in diese Richtung oder in jene, und wenn der Morgen kam, waren wieder fünf Segel am Horizont. Sie waren wie Neunaugen. Ich konnte sie einfach nicht abschütteln. Dann änderte sich das Wetter. Ein heftiger Wind erhob sich aus dem Westen und trieb uns einen Tag und einen halben Richtung Osten, schließlich kam Sturm auf, und wir wurden an einer unbekannten Küste entlang getragen. Das einzig Gute an diesem Sturm war, daß wir endlich die Cereser abschütteln konnten. Als wir schließlich in einen sicheren Hafen einliefen, waren wir in Gewässern, von denen wir noch nie gehört hatten, geschweige denn, daß sie einer von uns je erblickt hatte.

Wir legten an und nahmen Vorräte an Bord. Das Schiff brauchte dringend einige Reparaturen; es würde zwar nicht sinken, jedoch machten die Beschädigungen das Segeln sehr unbequem. Ich brachte es einen großen Fluß hinauf, der irgendwo im Osten des Königreichs liegen mußte.

Nun, in der zweiten Nacht, die wir vor Anker lagen, überfiel eine verfluchte Horde von Goblins das Schiff, tötete die Wachen und nahm den Rest von uns gefangen. Die Bastarde steckten die Schwalbe in Brand und versenkten sie. Dann brachten sie uns in ein Lager im Wald, wo einige Dunkle Brüder warteten. Die übernahmen uns, und wir marschierten Richtung Norden.

Die Kerle, die ich angeheuert hatte, waren ein rauher Haufen, doch die meisten von ihnen überlebten den Marsch nicht. Die verfluchten Goblins kümmerten sich einen Dreck darum. Wir bekamen so gut wie nichts zu essen, und wenn ein Mann krank wurde und nicht mehr weiterkonnte, wurde er auf der Stelle getötet. Ich bekam Koliken, und Guy und Armand schleppten mich zwei Tage lang, und glaubt mir, für keinen von uns war das ein Vergnügen.

Wir zogen nach Nordwesten in die Berge hinauf und überquerten sie. Zum Glück für uns war Spätsommer, sonst wären wir alle erfroren. Trotzdem war es immer noch eine gefahrliche Angelegenheit. Schließlich stießen wir auf einige andere Dunkle Brüder, die noch mehr Gefangene hatten. Die meisten dieser Gefangenen sprachen eine seltsame Sprache, ähnlich wie Yabonesisch, doch ein paar waren der Sprachen des Königreichs oder der östlichen Reiche mächtig.

Noch zweimal begegneten wir Truppen von Brüdern mit menschlichen Gefangenen, die alle Richtung Westen marschierten. Ich verlor völlig das Zeitgefühl, doch wir mußten schon ungefähr zwei Monate unterwegs sein. Als wir uns schließlich dazu aufmachten, die Ebene zu überqueren - später erfuhr ich, daß es die Ebene von Isbandia war -, begann es bereits zu schneien. Heute weiß ich, was unser Ziel war, damals war es mir allerdings unbekannt. Murmandamus sammelte in Sar-Sargoth Sklaven, die seine Belagerungsmaschinen ziehen sollten.

Dann trafen unsere Wächter eines Nachts auf eine Kompanie hiesiger Reiter. Von den vielleicht zweihundert Sklaven überlebten gerade zwanzig, weil die Goblins und Dunklen Brüder sie hinschlachteten, als die Reiter das Lager überfielen. Guy erwürgte einen der Goblins mit den Ketten, die ihn fesselten, als der mir das Schwert in den Leib stoßen wollte. Ich hob das Schwert auf und erschlug einen, der dem Protektor gerade das Auge herausgerissen hatte. Armand war zwar verwundet, doch nicht so schwer, und er würde seinen Verletzungen nicht erliegen. Er ist ein zäher Bastard. Nur wir drei und zwei weitere Männer der Schwalbe überlebten.

Und von dort aus wurden wir hierhergebracht.«

Arutha sagte: »Was für eine unglaubliche Geschichte.« Er lehnte sich an die Wand. »Nun ja, es sind schließlich auch unglaubliche Zeiten.«

Martin sagte: »Und wie ist dieser Fremde hier an die Macht gekommen?«

Amos trank einen Schluck Bier. »Sie sind ein seltsames Volk, Martin. So ehrlich und nett sie auf der einen Seite sind, so fremdartig sind sie auf der anderen. Fast so wie die Tsurani. Sie haben hier keine Erbfolge für die Herrschaft. Statt dessen legen sie größten Wert auf die Fähigkeiten eines Mannes. Innerhalb weniger Monate wurde ihnen klar, daß Guy ein erstklassiger General war, also gaben sie ihm das Kommando über eine Kompanie. Und nach weiteren Monaten stellte sich heraus, daß Guy bei weitem der beste Kommandant war, den sie hatten. Sie haben hier nichts, was mit der Versammlung der Lords zu vergleichen wäre. Wenn etwas entschieden werden muß, werden alle zu einem Treffen auf dem großen Platz zusammengerufen, wo sonst der Markt stattfindet. Sie nennen diese Versammlung Volksraad, und alle dürfen mit abstimmen. Andererseits werden sonst alle Entscheidungen den Gewählten überlassen. Sie beriefen also Guy zum neuen Protektor von Armengar. Das ist so etwas wie der Marschall des Königs, doch er ist ebenfalls für die Sicherheit der Stadt verantwortlich, so wie ein Sheriff, Wachtmeister, Vogt und Verwalter in einer Person.«

Arutha fragte: »Und was hat der vorherige Protektor dazu gesagt.«

»Sie muß es für eine gute Idee gehalten haben; schließlich hat sie es vorgeschlagen.«

»Sie?« entfuhr es Jimmy.

Amos sagte: »Das ist auch so eine Sache bei diesen Leuten, an die man sich erst gewöhnen muß. Frauen. Sie sind genauso wie Männer. Ich meine, wenn es darum geht, Befehle zu geben und entgegenzunehmen, oder im Volksraad abzustimmen ... oder bei anderen Dingen. Ihr werdet noch sehen.« Amos erschien auf einmal irgendwie abwesend. »Ihr Name war Gwynnath. Sie war eine der schönsten Frauen, die ich jemals kennengelernt habe. Ich war selbst auch ein bißchen in sie verliebt, und dessen schäme ich mich nicht, obwohl« - seine Stimme wurde etwas heller - »ich mich niemals irgendwo niederlassen werde. Wenn ich es jedoch tun würde, dann wäre sie genau die Richtige für mich ... gewesen.« Er sah auf seinen Bierkrug. »Nur sie und Guy ... Ich weiß einige Dinge über ihn, hab' sie nach und nach während der letzten beiden Jahre erfahren, Arutha. Aber ich kann sein Vertrauen nicht enttäuschen. Wenn er es Euch selbst erzählt, schön. Ich will mal so sagen, sie waren am Ende so etwas wie Mann und Frau, und sehr ineinander verliebt. Sie war diejenige, die ihren Platz freimachte und ihm die Stadt übergab. Sie wäre für ihn gestorben. Und er für sie. Sie ritt an seiner Seite und kämpfte wie eine Löwin.« Seine Stimme wurde leise. »Und gestern starb sie.«

Arutha und Martin wechselten Blicke mit den anderen. Baru und Roald blieben still. Laurie dachte an Carline und erschauerte. Selbst die Jungen konnten spüren, was Amos bei diesem Verlust fühlte. Arutha erinnerte sich an das, was Amos zu Armand gesagt hatte, bevor sie Guy getroffen hatten. »Und Guy gibt sich selbst die Schuld.«

»Ja. Einauge hat viel von einem guten Kapitän: Wenn unter seinem Kommando etwas passiert, übernimmt er auch die Verantwortung.« Amos lehnte sich zurück, und sein Gesicht erstarrte zu einer nachdenklichen Maske. »Die Goblins und die Armengaren haben die Dinge lange Zeit sehr einfach gehandhabt. Einen Ausfall machen, ein paar Schädel einschlagen, sich wieder zurückziehen. Die Armengaren waren den Tsurani sehr ähnlich; furchteinflößende Krieger, doch ohne rechte Schlachtordnung. Doch als Murmandamus auftauchte, traten die Brüder geordneter auf. Jetzt können sie zwei-, dreitausend Krieger einem Kommandanten unterstellen. Bevor wir hier erschienen, schlug die Bruderschaft die Armengaren regelmäßig. Guy erwies sich für die Armengaren als der reinste Segen, da er sich in moderner Kriegsführung auskennt. Er bildete sie aus, und jetzt haben sie eine verflucht gute Kavallerie und ein ebenso gutes Fußvolk, obwohl es nicht leicht ist, einen Armengaren zu überreden, von seinem Pferd zu steigen. Dennoch macht Guy Fortschritte. Sie behaupten sich wieder gegen die Brüder. Doch gestern ...« Eine Weile lang sagte niemand ein Wort.

Schließlich meinte Martin: »Wir haben einige ernste Angelegenheiten zu besprechen, Amos. Ihr wißt, wir wären nicht hier, wenn im Königreich nicht etwas von äußerster Bedeutung vorgefallen wäre.«

»Nun, Arutha, Martin, ich lasse Euch für eine Weile allein. Ihr wart gute Gefährten, und ich weiß, Ihr seid ehrenwerte Männer.« Er stand auf. »Nur noch eine Sache. Der Protektor ist der mächtigste Mann in der Stadt, doch selbst seine Macht endet dort, wo die Sicherheit von Armengar beeinträchtigt wird. Wenn ich sagte, Ihr hättet noch einen alten Handel auszutragen, würde niemand ein Duell Mann gegen Mann verwehren. Würdet Ihr gewinnen, könntet Ihr Eures Weges ziehen, und niemand in der Stadt würde die Hand gegen Euch erheben. Doch er braucht Euch nur als Spione zu bezeichnen, und Ihr alle wäret tot, bevor Ihr Euch noch umgedreht hättet. Arutha, Martin, ich weiß, zwischen Euch und Guy hat es böses Blut gegeben, wegen Eures Vaters, und auch wegen Erland. Und ich weiß jetzt einiges über das, was dahintersteckt. Ich überlasse es Guy, das zu gegebener Zeit mit Euch auszutragen. Doch Ihr sollt wissen, wie schnell sich das Wetter hier oben wandelt. Solange Ihr kein Gesetz brecht, dürft Ihr kommen und gehen, wie es Euch beliebt - oder zumindest solange, wie Guy nicht befiehlt, Euch in Ketten legen zu lassen oder aufzuhängen oder was auch immer. Doch er übernimmt die Verantwortung. Er legt seine Hand für Euch ins Feuer, für alle von Euch. Wenn Ihr diese Stadt hintergeht, wird er mit Euch zusammen das Leben dafür geben. Wie ich schon sagte, diese Leute sind manchmal sehr sonderbar, und sie können sehr rauh handeln. Also versteht mich richtig, wenn ich Euch dies sage: Wenn Ihr Guys Vertrauen mißbraucht, selbst wenn Ihr glaubt, es sei zum Besten des Königreichs, werden diese Menschen Euch töten. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich dann versuchen würde, sie aufzuhalten.«

»Amos, Ihr wißt, wir werden niemandes Vertrauen mißbrauchen«, entgegnete Martin.

»Ja, ich weiß das, doch Ihr sollt wissen, wie entschieden ich in dieser Hinsicht denke. Ich mag Euch beiden Kerle sehr, und ich würde es gar nicht gerne sehen, wenn man Euch einen Kopf kürzer macht, genausowenig wie Ihr selbst.« Ohne ein weiteres Wort verließ Amos ihr Quartier.

Arutha lehnte sich zurück und dachte über all das nach, was Amos ihnen erzählt hatte, und plötzlich merkte er, wie hundemüde er war. Er sah Martin an, und sein Bruder nickte. Es war nicht nötig, die Sache noch länger zu besprechen. Arutha wußte, am Morgen würde er Guy die ganze Geschichte erzählen.

 

Arutha und seine Gefährten warteten, während der Aufzug in die Höhe stieg und schließlich auf dem Stockwerk hielt, wo sich das Versammlungszimmer des Protektors befand. Sie gingen ein Stück den Gang entlang und blieben dann stehen. Die Wache, die sie begleitet hatte, wartete, derweil sahen sie aus dem Fenster und bewunderten die Aussicht. Armengar breitete sich jenseits des Wassergrabens um die Zitadelle vom großen Marktplatz bis zu der riesigen Stadtmauer aus. Hinter der Mauer sahen sie eine weite Ebene, die sich nach Nordosten bis in die Nebel der Ferne erstreckte. Auf der anderen Seite der Stadt erhoben sich Berge hoch in den Himmel. Von Westen her trieben weiße bauschige Wolken über einen tiefblauen Himmel, und sonnenbeschienene, bernsteinfarbene Grasländer zogen sich bis zu den Grenzen ihres Blicks hin. Es war eine unglaubliche Aussicht. Jimmy sah zu Locklear hinüber und bemerkte einen seltsamen Ausdruck auf dessen Gesicht. »Was ist?«

»Ich habe nur gerade an all das Land gedacht«, meinte er und zeigte auf die Ebene.

»Was ist damit?« fragte Arutha.

»Man könnte eine Menge darauf anbauen.«

Martin ließ seinen Blick am Horizont entlangschweifen. »Genug Weizen, um das Westliche Königreich zu ernähren.«

Jimmy sagte: »Du als Bauer?«

Locklear grinste. »Was glaubst du, was ein Baron an so einem kleinen Ort wie Endland macht? Meistens schlichtet er irgendeinen Zank zwischen Bauern, oder er erläßt gnädige Steuern für Getreide. Du solltest solche Dinge eigentlich wissen.«

Die Wache sagte: »Kommt, der Protektor wartet.«

Als Arutha und seine Gefährten eintraten, sah Guy auf. Bei ihm waren Amos, Dwyne, Armand de Sevigny und eine Frau. Arutha sah seinen Bruder an, der abrupt stehenblieb. Der Herzog von Crydee starrte die Frau in unverhohlener Bewunderung an. Arutha berührte Martin am Arm, und der folgte seinem Bruder. Arutha sah die Frau noch einmal an, und jetzt konnte er Martin verstehen. Auf den ersten Blick schien sie ganz normal auszusehen, doch ihre Bewegungen verliehen ihrem Auftreten eine völlig andere Erscheinung. Sie war umwerfend. Sie trug einen Lederharnisch, einen braunen Jagdrock und eine braune Hose, wie die meisten anderen Leute in der Stadt. Doch das grobe Äußere konnte kaum ihre gute Figur verbergen, und ihre Haltung war aufrecht, fast königlich. Ihr Haar war dunkelbraun, nur an der Schläfe zeigte sich eine erschreckend graue Strähne. Sie trug das Haar mit einem grünen Tuch zusammengebunden, und ihre Augen waren grün. Die roten Ränder unter ihren Augen verrieten, daß sie geweint hatte.

Guy machte Arutha und seinen Gefährten eine Geste, sich zu setzen. Arutha stellte alle vor, und Guy sagte im Gegenzug: »Amos und Armand kennt Ihr ja. Dies ist Briana«, er zeigte auf die Frau, »eine meiner Kommandantinnen.« Arutha nickte und bemerkte, wie die Frau ihre Fassung zurückgewann und Martins Blick erwiderte.

Kurz und knapp erzählte Arutha Guy das wichtigste seiner Geschichte. Er begann mit der Rückkehr von der langen Reise mit Lyam in den Osten, dann sprach er von der ersten Attacke der Nachtgreifer, über die Enthüllung in der Abtei von Sarth und die Suche nach Silberdorn bis hin zum vorgetäuschten Tod des Prinzen von Krondor. Abschließend sagte er: »Um zum Ende zu kommen, wir sind hier, um Murmandamus zu töten.«

Bei diesen Worten schüttelte Guy ungläubig den Kopf. »Cousin, das ist ein verwegener Plan, aber ...« Er wandte sich an Armand. »Wie oft haben wir Leute zu seinem Lager geschickt, die seine Truppe unterwandern sollten?«

»Sechsmal?«

»Siebenmal«, sagte Briana.

»Aber das waren keine Männer aus dem Königreich, oder?« mischte sich Jimmy ein und holte einen schwarzen Greif an einer Kette hervor. »Und sie trugen auch sicherlich nicht den Talisman der Nachtgreifer, nicht?«

Guy sah Jimmy fast wütend an. »Armand?«

Der frühere Baron von Gyldenholt öffnete eine Schublade in einem Kabinett und holte einen kleinen Beutel hervor. Er löste das Band um den Beutel und schüttete ein halbes Dutzend Talismane auf den Tisch. »Wir haben auch das versucht, Junker. Und ja, einige waren Männer aus dem Königreich, weil die Armengaren immer wieder welche gerettet haben, wenn sie die Sklavenkarawanen der Brüder überfielen. Sie wissen einfach, wer ein richtiger Halunke und wer ein Spion ist.«

Arutha meinte: »Höchstwahrscheinlich durch Magie.«

Guy sagte: »Vor dem Problem haben wir schon früher gestanden. In unserer Stadt gibt es keine Zauberer, weder Magier noch Priester. Es scheint, als böte der ständige Krieg, in dem von jedem erwartet wird zu kämpfen, nicht die nötige Ruhe für solche Studien - oder alle Lehrer werden getötet.« Und nachdenklich fügte er hinzu. »Obwohl er aus irgendeinem Grunde nicht gewillt zu sein scheint, seine Kräfte gegen uns einzusetzen. Den Göttern sei Dank.«

Guy lehnte sich zurück. »Ihr und ich haben das gleiche Interesse, Cousin. Und um Euch etwas davon zu vermitteln, möchte ich Euch ein bißchen von diesem Ort erzählen. Ihr wißt, die Vorfahren der Armengaren kamen über die Berge, als das Königreich Yabon annektierte. Sie entdeckten ein reiches Land, allerdings war es schon bewohnt. Und die Bewohner betrachteten den Einfall der Armengaren nicht mit Wohlwollen. Briana, wer hat diese Stadt gebaut?«

Die Frau sprach mit einer leisen Altstimme. »Der Legende nach haben die Götter einem Volk von Riesen befohlen, diese Stadt zu bauen, dann haben die sie jedoch verlassen. Wir haben sie so gelassen, wie wir sie vorgefunden haben.«

»Keiner weiß, wer hier einst gelebt hat«, sagte Guy. »Weiter im Norden gibt es noch eine Stadt, Sar-Sargoth, eine Zwillingsstadt von dieser - und noch dazu die Hauptstadt von Murmandamus.«

Arutha sagte: »Wenn wir ihn also finden wollen, müssen wir ihn dort suchen.«

»Versucht das, und er wird Eure Köpfe auf Lanzen in Empfang nehmen«, schnaubte Amos.

Guy zeigte Zustimmung. »Wir müssen etwas anderes tun, Arutha. Letztes Jahr ließ er eine Armee von über zwanzigtausend Mann aufmarschieren - so groß wie die Armeen des Nordens in Friedenszeiten. Wir stellten uns schon auf einen massiven Angriff ein, doch nichts passierte. Nun, ich gehe davon aus« - er deutete auf Baru -, »das Unternehmen wurde wegen des Todes von Murmandamus' Lieblingsgeneral abgeblasen. Doch in diesem Jahr ist er wieder da, und er ist noch stärker. Wir schätzen, er hat mehr als fünfundzwanzigtausend Goblins und Dunkle Brüder unter seinem Banner versammelt, und jeden Tag kommen mehr. Ich glaube, es werden an die dreißigtausend sein, wenn er seinen Marsch beginnt.«

Arutha sah Guy an. »Warum ist er noch nicht im Anmarsch?«

Guy breitete die Hände aus, womit er die Anwesenden um ihren Kommentar bat.

»Er wartet auf Euren Tod, wißt Ihr denn nicht mehr?« unterrichtete ihn Jimmy. »Das ist eine religiöse Angelegenheit.«

Arutha sagte ruhig: »Aber er hat die Nachricht inzwischen erhalten. Das hat er jedenfalls dem abtrünnigen Morgan Crowe gesagt.«

Guy kniff sein eines Auge zusammen. »Was bedeutet das?« Arutha erzählte ihm die Geschichte mit dem Abtrünnigen in dem Wirtshaus an der Straße nach Tyr-Sog, und von Murmandamus' Plan, Segersens Pioniere anzuheuern.

»Darauf hat er gewartet«, sagte Guy und schlug auf den Tisch. »Er hat magische Kräfte, doch aus irgendeinem Grund will er sie gegen uns nicht anwenden. Ohne Segersens Pioniere kann er unsere Mauer nicht durchbrechen.« Als Arutha darauf skeptisch reagierte, meinte Guy: »Wenn er Armengars Mauer so niederwalzen könnte, würde er Segersen nicht anheuern. Niemand weiß, wer diese Mauern gebaut hat, Arutha, und wer auch immer das getan hat, er hatte Fertigkeiten, die ich noch bei keinem anderen gesehen habe. Ich habe Befestigungsanlagen jeder Art gesehen, doch niemals eine wie Armengar. Segersens Pioniere hätten die Mauer vielleicht nicht durchbrochen, doch sie sind die einzigen, die überhaupt eine Chance haben.«

»Wenn also Segersen nicht kommt, sind wir in einer guten Ausgangslage zur Verteidigung.«

»Ja, doch da kommen auch noch andere Dinge zum Tragen.« Guy stand auf. »Wir haben noch mehr zu besprechen, und wir können später damit fortfahren. Jetzt habe ich eine Verabredung mit einem Stadtrat. Für den Moment steht es Euch frei, Armengar zu betreten oder zu verlassen, ganz, wie Ihr wollt.« Er nahm Arutha zur Seite und sagte: »Ich muß mit Euch unter vier Augen sprechen. Heute abend, nach dem Essen.«

Die Versammlung löste sich auf, und Briana, Armand und Guy gingen davon. Amos und Dwyne blieben zurück. Amos kam zu Arutha und Martin hinüber, während der Herzog der Frau hinterherstarrte. »Wer ist sie?« fragte Martin.

»Sie ist die Tochter einer der besten Kommandantinnen, Martin. Gwynnaths Tochter.«

»Jetzt verstehe ich ihren trauernden Blick«, entgegnete der Herzog.

»Sie hat erst heute morgen vom Tod ihrer Mutter erfahren.« Amos deutete auf die Stadt. »Ihre Patrouille war im Westen, an der Linie der Steadings und Kraals, und sie ist erst vor einigen Stunden zurückgekommen.« Martin sah ihn fragend an. »Die Ackerbaugemeinden nennen wir Steadings, und die Viehzüchtergemeinden Kraals. Guy macht mir allerdings mehr Sorgen.«

Arutha sagte: »Er versteckt seine Trauer sehr gut.« Der Prinz von Krondor fühlte zwei Seelen in seiner Brust. Die Abneigung gegen Bas-Tyra hatte er sozusagen schon auf dem Schoß seines Vaters mitgegeben bekommen, doch nun empfand er auf einmal Mitleid für den trauernden Mann. Er hatte damals Anita fast verloren, und er spürte diesen Schmerz jetzt wieder, als er über Guys Schicksalsschlag nachdachte. Und das, obwohl Guy Anitas Vater hatte ins Gefängnis werfen lassen, wo dieser gestorben war.

Guy war ein Verräter. Arutha schob diese Gefühle beiseite, weil sie ihn zu sehr quälten. Er ging neben Amos und Martin her, während der frühere Jagdmeister von Crydee den früheren Kapitän weiter über Briana ausquetschte.